Freie Tage


Liana schloss die Augen, während sie tief im duftenden, üppigen Badeschaum versank. Der heutige Tag hatte ihr viel Kraft geraubt. Über fünfzehn Stunden musste sie operieren. Erst entfernte sie zwei Hirntumore, anschließend kam noch ein Notfall, eine Hirnblutung, dazu. Nun lagen zwei freie Tage vor ihr, in denen sie sich richtig ausspannen würde, lange schlafen, ausgiebige Spaziergänge und vielleicht einen Einkaufsbummel durch die Stadt. Das hatte sie sich mehr als verdient. Schließlich lag ihre bestandene Facharztprüfung schon ein Weilchen zurück und dabei war sie noch nicht mal zum Feiern gekommen, weil ständig ein Kollege fehlte, den sie vertreten musste. Ihre steile Karriere an der Charité sollte ihr den ersehnten Weg in die Forschung ebenen. Als medizinische Wissenschaftlerin malte sie sich in Zukunft gegen Parkinson und Demenz aus. Wenn ihr hier der Durchbruch gelang, wäre das ein riesiger Fortschritt, von dem sie immer geträumt hatte. Ältere Menschen, wie ihre geliebte Großmutter, könnten dann ihren verdienten Lebensabend richtig genießen und müssten nicht in Pflegeeinrichtungen auf ihr erlösendes Ende warten. Wie erwacht von ihrem Spaziergang durch ihre mögliche Zukunft, fiel ihr Blick auf ihre schrumpligen Finger. Sie sollte sich besser auf das Hier und Jetzt konzentrieren, daran arbeiten, ihr Ziel zu erreichen. Kurz darauf verließ sie die Badewanne, ging ins Wohnzimmer und setzte sich mit einer Tasse frisch aufbrühten Yogi-Tee auf ihr Sofa. Sie nahm die Tageszeitung in die Hand. Auf der Titelseite sprang ihr die Überschrift in dicken schwarzen Buchstaben ›Vampirfledermäuse in Berlin!‹ ins Auge.

So ein Blödsinn! Diese Tiere lebten lediglich in den tropischen Regenwäldern Lateinamerikas. Trotz aller Klimaveränderungen, so gravierend hatte sich das Wetter in Deutschland nun doch noch nicht gewandelt. Liana musste kurz über ihre Gedanken lachen. Vielleicht handelte es sich hierbei um einen Ausreißer aus dem Zoo. Mit dieser Idee las sie sich den Artikel durch. Ein Spaziergänger hatte letzte Woche in der leerstehenden russischen Kaserne eine männliche Leiche entdeckt. Die Obduktion der Leiche hatte ergeben, dass der 57-Jährige an Herzversagen gestorben war. Er war mit dem Hinterkopf auf einem harten Untergrund aufgeschlagen, hatte sich eine massive Platzwunde zugezogen, die aber nicht die Todesursache gewesen war. Auffallend waren zwei markante Bisswunden am Hals der Leiche. Nach bisherigen Erkenntnissen von Fachleuten handelt es sich um den Biss der tropischen Vampirfledermaus. Von Seiten der Pathologen wurde unter Berücksichtigung der Platzwunde ein enormer Blutverlust festgestellt. Ungewöhnlich sei allerdings, dass Vampirfledermäuse für gewöhnlich nur geringe Mengen Blut von ca. zwanzig Milliliter zu sich nehmen. Die fehlende Blutmenge des Toten wurde jedoch auf gut einen Liter geschätzt. Liana warf die Zeitung auf den Tisch. Über eine solche Story konnte sie nur den Kopf schütteln. Journalisten verdrehten nur zu gern die Tatsachen, um die Verkaufszahlen der Tageszeitung in die Höhe zu treiben. Vermutlich war an der Geschichte nicht mal die Hälfte wahr. Liana trank ihren Tee aus. Weitere überzogene Nachrichten wollte sie sich heute nicht antun.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Über die Gegensprechanlage hörte sie Bettinas Stimme und betätigte den Türöffner. Ihre Arbeitskollegin hastete die Treppe hinauf. Bei dem ungewohnten Anblick glitten Liana die Worte schneller über die Lippen, als ihr lieb war.

»Du bist ja ganz bleich. Was ist denn passiert? Hattest du einen Unfall?« Sie schob Bettina in ihre Wohnung.

»Nein, ich ... weißt du ...« Bettina wirkte verwirrt.

»Komm. Ich mache dir erst mal einen Tee.«

»Danke.« Bettina sank auf die Couch und wiegte ihren Oberkörper vor und zurück. Liana beeilte sich. Sie stellte die Tasse vor Bettina auf den Tisch.

»Jetzt erzähl mal, was ist denn los?« Liana sah auf Bettinas zappelnde Finger, die auf ihrem Schenkel auf und ab tippelten.

»Hast du heute schon Zeitung gelesen?«, fragte Bettina endlich.

»Ja. Welchen Artikel meinst du?«

»Weißt du eigentlich, wie gefährlich diese Fledermäuse sind? Sie übertragen schlimme Infektionskrankheiten. Stell dir mal vor, eines Tages werde ich von diesen schrecklichen Biestern gebissen.« Bettinas Stimme zitterte.

»Beruhige dich.« Ausgerechnet diesen Bericht musste sie ansprechen. Liana strich ihr tröstend über den Rücken. »Bevor das passiert, wird man die kleinen Fledermäuse schon einfangen.«

Bettina schluckte hart und schaute Liana mit weit aufgerissenen Augen ins Gesicht. »Und wenn nicht? Wenn sie die Viecher nie zu fassen bekommen?«

»Normalerweise leben diese Tiere in den Tropen. Die werden hier nicht lange überleben. Vielleicht sind sie nur irgendwo ausgebüxt. Du wirst doch wegen dieser Meldung jetzt in keine Psychose verfallen?« Sonst ließ sich Bettina von derartigem Klatsch nicht berühren.

»Nein.« Bettina versuchte, zu lachen. Es wirkte sehr gestellt. »Das wäre zu blöd.« Verlegen griff sie nach dem Teebecher. »Hast du gelesen, es waren vermutlich sogar zwei Viecher?«

Mit einem tiefen Seufzer blies Liana ein ›Ja‹ aus. »Allerdings weißt du doch selbst am besten, wie gern die Presse mit solchen Bluttaten ihre Auflagen erhöht. Eine tropische Vampirfledermaus in Berlin ist natürlich ein gefundenes Fressen.«

Bettina atmete schnell. »Der arme Mann ist vielleicht vor Schreck gestorben. Wer weiß, wie die hässlichen Dinger ihn attackiert haben.«

»Herrje, Bettina. An der Story wird nicht viel sein. Das ist vermutlich ähnlich, wie damals dieser angebliche Werwolf. Letzten Endes war es ein neunjähriger Junge, der an Hypertrichose litt und am ganzen Körper behaart war. Lass dich durch diese überspitzten Meldungen nicht einschüchtern. Am Ende der Untersuchungen bleibt nichts Ungewöhnliches übrig, du wirst sehen.«

Bettina wirkte kein bisschen entspannter. Ihre Finger zappelten noch immer um den Becher Tee. »Glaubst du, dass es Straftaten gibt, die niemals ans Licht kommen?«

»Nein. Das perfekte Verbrechen gibt es nicht.«

»I ... ich kannte den Mann. Er war Hausmeister, weißt du?«

Liana überraschte die Aussage. Das lieferte natürlich auch eine Erklärung für ihr Verhalten. »Das tut mir leid. Ich wusste nicht, dass ihr euch nahe standet.«

»Nein, nein. Wir standen uns nicht nahe, ich kannte ihn eben nur.« Sie holte Luft, wurde langsam gesprächiger. »Er hatte niemanden. Keine Frau, keine Kinder, keine Freunde, verstehst du? Niemand wird ihn vermissen. Das ist doch ein furchtbarer Gedanke, findest du nicht?«

»Wenn du jetzt nicht allein sein möchtest, kannst du gern hier bleiben oder hast du heute noch Dienst?«

»Ja.« Bettina warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ach du meine Güte. Ich muss ja los.« Im selben Moment sprang sie auf und hastete zur Wohnungstür. Liana fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Eben wirkte Bettina tief betroffen und im nächsten Augenblick schien alles vergessen zu sein.


Liana spürte, wie sie erwachte, langsam. Woher kam dieses Geräusch? War es in ihrem Traum? Einige Momente verstrichen, bis sie den Ton dem Klingeln ihres Telefons zuordnete. Blinzelnd warf sie einen Blick auf die Uhr.

»5:00 Uhr?« Vermutlich ein außergewöhnlicher Notfall in der Klinik. Gähnend rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und schlurfte noch leicht benommen zum Telefon, um den grünen Knopf zu drücken. Bevor sie etwas sagte, hörte sie schon Bettinas aufgeregte Stimme.

»Liana, du musst mir helfen. Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Fahre in den Salbeiweg Nummer 7, dort holst du Veit von der Tagesmutter ab. Ich habe sie bereits angerufen, sie weiß Bescheid.«

»Was? Jetzt?« Bettina erlaubte sich wohl, einen Scherz mit ihr zu treiben. Um diese Uhrzeit konnte man kein Kleinkind aus dem Schlaf reißen.

»Sofort. Bitte, Liana! Veit ist in Gefahr! Ich will ihn nicht mehr hergeben. Du weißt, wie viel er mir bedeutet.«

»Ach, der nette Erzeuger macht mal wieder Schwierigkeiten?« Mit dem Vater gab es von Anfang an Probleme.

»Ich kann hier nicht weg. Das würde ihm auffallen. Bitte hol Veit zu dir. Ich komme gleich nach dem Dienst …«

Plötzlich hörte Liana nur noch ein Besetztzeichen. Bettina musste aufgelegt haben. »Großartig und das ausgerechnet heute.« Andererseits brachte sie es nicht übers Herz, Bettinas Wunsch abzuschlagen, auch wenn sie an ihrem freien Tag keine Lust verspürte, sich um das Balg ihrer Arbeitskollegin zu kümmern. Schleunigst zog sie sich an. Zwanzig Minuten später fuhr sie im Salbeiweg Nummer 7 vor. Ein nettes gelb verputztes Einfamilienhaus mit gepflegtem Vorgarten. Im Flur brannte bereits Licht und fiel durch zwei dreieckige Fenster in der Eingangstür auf das flache Eingangspodest. Liana kam nicht dazu, anzuklopfen. Die Tür wurde vorher von der Tagesmutter aufgerissen.

»Hallo! Sie müssen Liana sein. Bettina war ganz aufgeregt am Telefon, was ist denn nur passiert?«

»Sie sagte nur, dass ich Veit abholen soll. Mehr weiß ich auch nicht.«

Liana fühlte sich plötzlich fehl am Platz. Diese nächtliche Aktion wäre gewiss nicht nötig gewesen und Bettina schätze die Situation nicht richtig ein. Kein Wunder so durcheinander, wie sie gestern war.

Die Tagesmutter nickte und reichte Liana eine handliche Reisetasche. »Hier sind seine Sachen. Ich habe ihn noch so lange schlafen lassen, jetzt werde ich ihn mal holen.« Sie verschwand für einen Augenblick und kehrte mit Veit auf dem Arm zurück. Seine dunkelbraunen Löckchen standen verwuschelt nach oben. Schläfrig drückte er ein kleines undefinierbares Plüschtier an sich. Liana nahm Veit zu sich auf den Arm, ohne dass es den Jungen zu interessieren schien. Der hellblaue Schlafanzug fühlte sich noch ganz warm an. Die Tagesmutter wickelte, so gut, wie es auf Lianas Arm ging, eine Decke um Veit. Erst am Auto fiel Liana auf, dass sie gar keinen Kindersitz besaß. Hoffentlich passierte unterwegs nichts, sie musste sehr achtsam nach Hause fahren. Vorsichtig legte sie ihn auf den Rücksitz, deckte ihn zu und betrachtete ihn einen Augenblick. Schlafende Kindergesichter sehen so herrlich entspannt aus. In diesem Moment wurde Liana ganz warm ums Herz, ihre Muttergefühle erwachten. Jetzt trug sie Verantwortung für diesen kleinen Spatz. Ohne Zwischenfälle erreichte sie ihre Wohnung. Veit schien auf der kurzen Autofahrt wieder fest eingeschlafen zu sein. Behutsam trug Liana den Jungen in ihr Schlafzimmer, um ihn auf ihr Bett zu legen. Sie musste herzhaft gähnen. Solange Veit schlief, sollte sie sich neben ihn kuscheln. Sie sah ihm ins Gesicht, dann begann sie darüber nachzudenken, dass auch sie eines Tages Kinder haben wollte.


»Mama!«

Eine helle Stimme beendete Liana traumlosen Schlaf. Sie öffnete die Augen und sah Veit am Kopfende des Bettes sitzen. Dicke Tränen kullerten über seine Wangen.

»Meine Mama!« Er schluchzte herzzerreißend. »Mama!«

»Nicht weinen, Veit. Mama kommt gleich nach dem Nachtdienst her und holt dich nach Hause.« Sie wollte ihn in die Arme nehmen, Geborgenheit vermitteln, doch er schlug nur wild um sich.

»Meine Mamaaa!« Veit weinte, unbeeindruckt von ihren tröstenden Worten weiter.

»Veit, du kennst mich doch. Ich arbeite mit deiner Mama zusammen.« Sie streckte ihm, wie zum Beweis, ihre Hand entgegen. Augenblicklich veränderte sich sein Weinen zum Kreischen. Es klang fast so, als ginge es um sein Leben. Gut, das war also die falsche Taktik. Viel Erfahrung oder Gelegenheiten zum Üben im Umgang mit kleinen Kindern hatte sie bisher ja auch nicht. Eine knifflige Situation.

»In Ordnung Veit.« Sie konnte nicht erwarten, dass er ihr um den Hals fiel, dazu hatte sie ihn zu selten gesehen, aber als Frau sollte sie doch in der Lage sein, mit Kleinkindern umzugehen, zumindest musste sie ihn beruhigen. Veit drückte sein schwarzes Stofftier fest an sich und schniefte weiter nach seiner Mama. Ablenkung war bestimmt der beste Weg.

»Magst du mit mir frühstücken?« Für einen Moment sah Veit auf, schüttelte kurz den Kopf.

»Und wie wäre es, mit etwas zu trinken?« Er senkte seinen Blick, hörte dabei sogar mit seinem Weinen auf. Er nahm seine Finger in den Mund.

»Kennst du noch meinen Namen?« Veit reagierte nicht. »Ich heiße Liana.« Er sah weiterhin nach unten auf die Bettdecke.

»Na gut, Veit. Ich gehe jetzt in die Küche und mache mir einen Tee, wenn du magst, kommst du einfach hinterher.«

Veit blieb stur. Das Einzige, was sich an ihm bewegte, war sein kleiner Brustkorb, während er atmete. Kaum hatte Liana den Flur betreten, folgte ihr ein »Lia, Lia.« Darüber musste sie schmunzeln. Sie presste die Lippen zusammen, versuchte eine erste Miene aufzusetzen, als sie sich umdrehte. Veit stand auf dem Bett. Seine braunen Kulleraugen waren weit aufgerissen, als hätte er panische Angst. Seine Ärmchen hatte er vom Körper gestreckt, in der rechten Hand hielt er sein geliebtes Stofftier. Nun erkannte Liana endlich, was das schwarze Plüschtier darstellte.

»Möchtest du mich in die Küche begleiten?« Veit sah mit seinen abstehenden Haaren zu niedlich aus. Die Angst verschwand aus seinem Gesicht. Er ließ sich mit dem Po auf das Bett plumpsen und rutschte rückwärts herunter. »Lia.« Sie spürte wieder ihr Lächeln auf den Lippen, wobei ihr nicht ganz klar war, ob das Verhalten dieses kleinen Fratzes oder ihr Erfolg der Ablenkung dafür verantwortlich war. Entgegen ihrem Bedürfnis bot sie ihm nicht die Hand an. Das raschelnde Geräusch zwischen Veits Beinchen klang für Liana gewöhnungsbedürftig. Bestimmt brauchte er eine frische Windel. Liana war auf Besuch dieser Art nicht eingerichtet, doch zum Glück fanden sich einige Windeln in seiner Reisetasche. Mit Früchtetee und zurechtgeschnittenem Salamibrot schien Veit zufrieden zu sein. Nur nah an ihn herankommen durfte sie nicht. Zwischendurch drängte sich auch immer wieder die Frage nach seiner Mama in den Vordergrund. Nun waren ihre Fähigkeiten des Ablenkungsmanövers gefragt.

»Darf ich mir deine Fledermaus mal ansehen?« Ein Kopfschütteln mit heruntergezogenen Mundwinkeln und ein inniges Ansichdrücken des Stofftieres war seine Antwort. Liana schaute ihn an. Sie versuchte, sich in seine Lage hineinzuversetzen. Noch gestern Abend war er bei der vertrauten Tagesmutter eingeschlafen und erwachte nun am Morgen neben einer fremden Person in einer unbekannten Umgebung. Dafür benahm sich Veit noch sehr umgänglich.

Es klingelte. Liana stürmte zur Tür, riss die Wohnungstür auf und betätigte dabei den Türöffner unten an der Haustür. Endlich erlöste sie Bettina von ihrer Pflicht. Wie allerdings Dr. Michael Klingberger, ein Kollege aus der Charité und Veits Vater auf dem Treppenabsatz erschien, spürte Liana ihre Gesichtszüge erschlaffen.

»Guten Morgen Frau Dr. Majewski. Bettina schickt mich, um Veit zu holen.« Er lächelte, was bei Liana mehr Unwohlsein hervorrief. Bei Klingerberger wusste man nie, woran man war. Nach außen hin gab er sich höflich und hinten rum zog er über viele Kollegen her. Sie spürte die Ratlosigkeit in sich wachsen. Bettina hatte sie bestimmt nicht aus dem Bett geklingelt, um Veit von der Tagesmutter abzuholen, damit jetzt der Vater hier bei ihr auftauchte. Das ergab keinen Sinn. Von der Antipathie gegen Klingberger abgesehen, fühlte sie sich Bettina gegenüber verpflichtet, für Veit zu sorgen und ihn nicht jemand auszuliefern, vor dem sie ihren Sohn beschützen wollte.

»Guten Morgen Dr. Klingberger.« Nun kam es auf ihr Geschick an, aus dieser Situation das Beste zu machen. »Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen.« Das klang doch nach einer ehrlichen Aussage.

»Das kann ich mir denken. Bettina hat sicher wieder vergessen, Sie anzurufen. In letzter Zeit ist sie etwas überfordert und ich habe ihr versprochen, mich um Veit zu kümmern.« Aha, ein vielbeschäftigter Arzt, der in der Klinik fast wohnte, sich nur um sein Wohlergehen scherte, um sein gedecktes Konto mehr kümmerte, als um andere Dinge, wollte plötzlich Vater spielen? Er wusste doch nicht mal, wie man eine Windel wechselte.

»Am besten rufe ich sie schnell an« Sie bemühte sich um ein Lächeln, was ihr allerdings sehr schwer fiel.

»Das wird nicht nötig sein. Ich bin schließlich sein Vater.«

Dieser Scheißkerl hatte Bettina sitzengelassen, ihr nicht mal die vorgeschriebenen Alimente zu kommen lassen. Nein, dieser Typ besaß nicht den geringsten Funken Verantwortungsgefühl für seinen Sohn.

»Lia, Lia, Lia«, brabbelte Veit hinter ihr im Flur, seine Windel raschelte dabei. Liana blieb das Herz stehen. Bisher hätte sie Veits Anwesenheit leugnen können, aber jetzt brauchte sie schnell einen anderen Plan. Sie ging in die Hocke und hoffte inständig, Veit würde sich von ihr auf den Arm nehmen lassen. Ihr stockte der Atem vor Erleichterung, als Veit seine kurzen Ärmchen ausstreckte, während er in der Linken noch immer seine Plüschfledermaus festhielt.

»Hallo Veit. Papa nimmt dich heute mit, ja?« Dr. Klingberger kam ein Schritt auf die geöffnete Tür zu. Die kleinen Fingerchen gruben sich tief in Lianas Haut, als wolle er signalisieren, dass auch er den Kerl nicht mochte. Sie drückte das Kind an sich, um ihrerseits Veit zu verstehen zu geben, dass sie für ihn da war. Diesen süßen Fratz würde sie Dr. Klingberger nicht freiwillig überlassen.

»Dieses hässliche Stofftier.« Er schüttelte den Kopf. »Papa wird dir einen richtigen Teddy kaufen, ja?«

»Das muss Bettina entscheiden. Veit bleibt so lange in meiner Obhut, bis sie mir die Verantwortung für Veit entzieht.«

Klingberger grinste, es war ein falsches Grinsen. »Seien Sie nicht albern, Frau Dr. Majewski. Sie werden wohl kaum so dumm sein und Ihre Karriere auf Spiel setzten, nicht wahr?«

Liana fehlten die Worte. Der Kerl hatte doch nicht alle Tassen im Schrank. »Diese private Angelegenheit hat ja nun gar nichts mit meiner beruflichen Laufbahn zu tun, und ...« Liana spürte, wie ihr Blut zu kochen begann.

»Meine liebe Kollegin, wenn Sie mir mein eigenes Fleisch und Blut verweigern, wird das fatale Folgen für Sie haben. Noch genießen Sie den Ruf einer vielversprechenden Gehirnchirurgin, aber ich werde das zu ändern wissen.« Seine ruhige Stimme bekam einen durchdringenden Ton. »Übergeben Sie mir auf der Stelle meinen Sohn!«

Das war ja nun der Gipfel der Frechheit. Veits Fingerchen gruben sich bis zur Schmerzgrenze in Lianas Haut. Er zitterte, ohne einen Laut von sich zu geben. Eine Reaktion, die ihr Beschützerinstinkt auf den Plan rief. Grundlos würde sich kein Kleinkind so auffallend verhalten. Vermutlich gab es hier und da schon eine unschöne Begegnung, die Veits Leben prägte. Diesem unsympathischen Kerl musste sie Einhalt gebieten.

»Verschwinden Sie!« Wie konnte sie nur so mutig sein, oder eher dumm? Sie musste jetzt damit rechnen, dass er handgreiflich wurde.

»Gibt es Probleme?« Unbemerkt war die Tür der Nachbarwohnung aufgegangen. Liana fiel ein mächtiger Stein vom Herzen. Der gute alte Guido war immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte.

»Dr. Klingberger wollte ohnehin gerade gehen.« Sie fühlte ihr triumphierendes Lächeln im Gesicht, hoffentlich bereute sie das nicht irgendwann. Andererseits gab es erst mal keine Alternative. Klingberger drohte mit dem Finger.

»Das wird Folgen für Sie haben.« Zornig drehte er sich um und stapfte hörbar die Treppe hinunter.

»Danke, Guido. Das war so zusagen Rettung in letzter Minute.« Erleichtert atmete sie aus.

»Für Dich doch immer wieder gern, Liana. Du hast wohl einen neuen Untermieter?« Guido lachte und musterte Veit.

»Ich hoffe nicht für lange. Vielen Dank noch mal.« Sie schloss hinter sich die Wohnungstür. Erleichterung machte sich breit.

»Na Veit? Du scheinst deinen Papa aber nicht sonderlich zu mögen.« Sie streichelte über seinen Kopf und drückte ihn an sich. Was für ein herrliches Gefühl so einen kleinen Windelmatz auf dem Arm zu haben, besonders, wenn er sich so fest an sie kuschelte, wie in diesem Augenblick. Veit zeigte sich seit Klingbergers Besuch zugänglich, was die ganze Angelegenheit enorm erleichterte.